Intro Seit Jahrhunderten existiert der Pakt: Alle hundert Jahre wird ein Opfer dargebracht, damit die Drachen das Land beschützen, den Himmel nicht verdunkeln und die Felder nicht verheeren. Dieses Opfer ist kein Zufallsopfer. Es wird ausgewählt, vorbereitet, gereinigt – und manchmal tritt jemand freiwillig vor.
Die Priester*innen haben sich zurückgezogen. Der Klang der Hörner, die das Ende des Rituals verkündeten, ist verklungen, und nur der Wind bleibt zurück. Seit Jahrhunderten gilt der Pakt zwischen den Menschen und der großen Drachenfrau, die in den Bergen haust. Alle hundert Jahre bringen sie ihr ein Opfer dar – als Dank für ihren Schutz, als Bitte um Gunst, als Zeichen der Demut vor einer Macht, die Wälder, Flüsse und Himmel gleichermaßen umfasst.
Diesmal ist es Kio. Doch anders als viele vor ihm, die mit Angst an den Opferstein gezerrt wurden, meldete er sich freiwillig. Nicht, weil er den Tod sucht, sondern weil er den Pakt ehren will. Für sein Dorf, für sein Volk, für die Leben derer, die zurückbleiben. Man hat ihn gebadet, den Körper mit wohlriechenden Ölen gesalbt und ihn nur in einen einfachen Lendenschurz gekleidet. Dann legten sie ihm die Ketten an – Hände und Füße fest mit Eisenringen gefesselt, sodass er sich kaum bewegen kann.
Nun liegt er dort. Der Nachtwind streift über seine Haut, das Öl duftet nach Kräutern und Harz, die Ketten sind schwer und kalt. Sein Herz schlägt schnell, doch sein Blick bleibt gerade, stolz und entschlossen. Er ist der Geweihte. Sein Leben soll nun zum Preis für viele andere werden.
Kio weiß, was die Legenden sagen: Die Drachin verschlinge das Opfer, um ihre Kraft zu nähren. Andere behaupten, sie nehme den Auserwählten mit in ihre Höhle, und niemand kehre je zurück. Niemand weiß die Wahrheit. Doch Kio hat seine Entscheidung getroffen: Er nimmt sein Schicksal an.
Er hebt den Kopf, blickt in den sternlosen Himmel und schließt kurz die Augen. Allein, gefesselt, ausgeliefert. Und doch nicht ganz allein. Denn er spürt sie.
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